Weihbischof Wilfried Theising
Die Wahrheit lebt – Eine österliche Spurensuche
„Was ist Wahrheit?“ Diese kurze, berühmte Frage richtet Pontius Pilatus an Jesus – kurz bevor er ihn dem Volk zur Kreuzigung übergibt und sich dann abwendet. Er wartet eine Reaktion nicht ab, keine Antwort, kein Dialog. Nur diese Worte im Raum, am Vorabend der Kreuzigung. Vielleicht war es eine echte Frage. Vielleicht Ironie. Oder ein Zeichen von Resignation. Vielleicht ahnt Pilatus, dass Wahrheit mehr ist als eine schnelle Antwort. Klar ist: Pilatus wollte sich der Wahrheit nicht stellen. Denn wer ihr wirklich begegnet, muss sich entscheiden.
„Was ist Wahrheit?“ - die Frage aus dem Johannesevangelium hallt bis heute nach. Und sie wirkt aktueller denn je. In einer Welt voller Meinungen, Informationen, Empörung und Unsicherheit ist „Wahrheit“ ein umkämpfter Begriff geworden. Was bisher als gemeinsam geteiltes Fundament galt – Fakten, Wissenschaft, historische Tatsachen und gemeinsame Werte – wird heute ständig infrage gestellt. Am Ende zählt oft nur die eigene Sicht, egal, ob objektiv überprüfbar oder nicht.
In der Politik erleben wir das täglich: Kriege werden mit falschen Narrativen legitimiert, Macht wird durch gezielte Desinformation gesichert. In sozialen Netzwerken verbreiten sich Falschmeldungen schneller als jede nüchterne Analyse. Und selbst im Alltag scheint es oft schwer, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Wahrheit wird zur Meinungssache oder zum Machtinstrument.
Aber liegt das nur an „den anderen“? An Fake News, Algorithmen oder Verschwörungserzählungen? Oder tragen wir selbst auch Verantwortung durch unsere eigene Haltung? Menschen neigen dazu, das zu glauben, was in das eigene Weltbild passt. Viele suchen Bestätigung, nicht Widerspruch und sind schnell zufrieden mit Schlagzeilen, statt tiefer zu fragen. Wahrheit ist jedoch unbequem, weil sie uns herausfordert. Sie zwingt uns, genauer hinzusehen und Position zu beziehen. Und manchmal auch, Fehler einzugestehen. Doch genau das macht sie so wertvoll.
Wahrheit ist nicht einfach da, nicht schlichtweg schwarz oder weiß – sie will gesucht werden, hat viele Facetten und ist oft voller Zwischentöne. Sie ist eher wie ein Mosaik, das wir Stein für Stein zusammensetzen müssen, wissend, dass das Bild nie ganz fertig wird.
Wahrheit wächst im ehrlichen Dialog, im Aushalten von Widersprüchen und Zweifeln sowie im genauen Hinsehen. Und sie braucht etwas, das in unserer Zeit oft fehlt: Geduld. Offenheit. Demut.
Im christlichen Glauben geht die Antwort auf Pilatus’ Frage noch tiefer. Jesus selbst sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Die Wahrheit ist kein abstraktes Konzept, nicht nur ein Gedanke oder Prinzip, sondern sie hat ein Gesicht. Und genau diese Wahrheit wird verspottet, verurteilt, gekreuzigt. Jedoch ist das eben nicht das Ende. Ostern bezeugt: Die Wahrheit lebt. Sie steht auf. Sie bricht die Macht des Todes.
Die Auferstehung Jesu ist mehr als eine wunderbare Glaubensgeschichte. Sie ist ein lebendiges Zeichen der Hoffnung: Dass das Letzte nicht das Unrecht ist, nicht die Lüge und Gewalt, nicht der Zynismus und der Tod. Sondern das Leben, die Liebe und die Wahrheit. Diese Wahrheit schreit nicht und zwingt sich nicht auf. Aber sie bleibt und sie verändert. Denn diese österliche Wahrheit lädt uns ein, neu zu vertrauen – auch wenn wir zweifeln. Sie fordert uns auf, die Stimme der Hoffnung nicht zu überhören. In der Welt, im Gegenüber, vielleicht sogar in uns selbst. Sie ermutigt uns, Unsicherheiten auszuhalten und sich auf neue Perspektiven einzulassen.
Pilatus hat gefragt: „Was ist Wahrheit?“ - und sich abgewandt. Wir aber haben die Chance, hinzusehen und hinzuhören. Zu fragen und zu suchen. Und zu vertrauen, dass Wahrheit – manchmal ganz leise – doch spürbar wird. In Begegnungen. In Erfahrungen. Und vielleicht – besonders an Ostern – im Glauben daran, dass die Wahrheit selbst, Jesus, lebt.
Frohe Ostern!